Lena's Mama



In die Klasse meiner Tochter geht ein Mädchen, die heisst Lena. Lena ist ein hübsches Mädchen, ganz lange Haare und ein elfenhafter Typ. Meine Tochter hat sie oft beneidet, um ihre schönen Haare. Man beneidet oft andere Menschen, weil man glaubt, dass das, was man sieht, auch so ist, wie es zu sein scheint.

 

Lena’s Mama hat Krebs.

Es fing wohl vor zwei Jahren an und ging dann nach einer Behandlung weg. Das muss eine schwere Zeit für die Familie gewesen sein. Erst die Schmerzen, dann die Ursachenforschung (man kennt das ja, wie oft ist man beim Arzt und es wird nach dem Grund des Unwohlseins gefahndet. Wie lange mag es gedauert haben, bis man die schreckliche Wahrheit herausgefunden hat?), eine langwierige und schmerzhafte Behandlung, Hoffnung, Heilung? Und dann ein Jahr später die Diagnose: der Krebs ist wieder da. Als meine Tochter mir davon erzählte dachte ich, okay, wenn er so schnell wiederkommt und der Körper noch so geschwächt ist, dann sinken die Chancen auf eine Genesung. Und doch, man kann sich nicht vorstellen, das jemand an einer Krankheit stirbt.

Man ist krank und weiss doch, es geht wieder besser…

Bei Lena’s Mama wurde es nicht besser. Täglich nach der Schule ist meine Frage: wie geht es Lena und wie geht es ihrer Mutter?

Für Kinder sind das Fragen, die sie nicht einordnen können. Tod. Es sterben alte Leute. Es sterben Menschen im Krieg. Bei Unfällen. Sie ertrinken. Oder sie ersticken im Feuer. Sie stürzen mit dem Flugzeug ab. Manche sterben bei Operationen.

Aber so?

Jemand, der doch immer das ist – und eine Mutter muss immer da sein – kann doch nicht einfach weg sein. So für immer.

Lena’s Mutter ging es immer schlechter. Sie kam ins Krankenhaus. Lena erzählte, dass ihre Mutter nichts mehr essen kann. Und irgendwann auch nicht mehr trinken.

Nach einigen Wochen kam die Nachricht, dass Lena’s Mutter die Behandlung beendet hat. Sie sei jetzt zu Hause und würde nur noch Schmerzmittel nehmen. Es gehe ihr gut.

Lena hat gesagt, wenn ihre Mutter stirbt, dann kommt sie nicht zur Schule. Jeden Tag, wenn sie fehlt, denken die Kinder in der Klasse, das war es jetzt.

Dabei ist die Mama mittlerweile soweit in der Lage, dass sie aufstehen und herumlaufen kann. Und Lena kommt selten zur Schule, weil sie viel Zeit mit ihrer Mama verbringen will. Und jeden Morgen, wenn sie nicht da ist, zittern die Mädchen.

Aber irgendwann kann auch so eine Nachricht die Bedrohlichkeit verlieren. Man kann nicht jeden Tag Angst haben. Irgendwann entspannt der Körper. Und so auch bei Lena.

Manchmal weint sie. Dann gehen die Mädchen mit ihr auf den Schulhof. Sie stehen dabei und trösten sie.

Aber – was ist ein Trost? Wie tröstet man ein Mädchen, das gerade in die Pubertät gekommen ist, alles und jeden in Frage stellt und sich an eine Mutter klammert, die das Mädchen durch diese Zeit führen soll und das nicht mehr kann?

Manchmal erzählt Lena, dass ihre Mutter getanzt hat und das hat sie mit ihrem Handy aufgenommen, zur Erinnerung. Sie schafft sich Erinnerungen an einen Menschen, der noch da ist. Der aber eigentlich – aus Sicht der Ärzte – gar nicht mehr da sein dürfte. Und es heisst: Ihr geht es gut.

Seit Wochen nimmt die Familie Abschied.

Ich frage mich, wie nimmt man Abschied? Wie geht das, wenn man einen Menschen um sich hat, der weiss, es geht zu Ende. Man kann nichts planen, lebt von Tag zu Tag und von Augenblick zu Augenblick.

So Lappalien fallen mir dann ein: wie geht die “Lindenstraße” im Fernsehen weiter? Wie ist die Fortsetzung eines Buches das erst in zwei Wochen erscheinen wird? Lohnt es, etwas neues zu beginnen? Wird es ein warmer Sommer? Wie wird Heiligabend? Was kommt Morgen im Fernsehen? Wie wird das Zeugnis von Lena? Wird sie mal einen netten Mann finden oder Single bleiben? Was wird Lena mal beruflich machen?

Werden die Kinder sich an ihre Mutter erinnern, wie sie einmal war, bevor sie so krank wurde? Werden sie das Lachen in Erinnerung behalten? Oder eher die Schmerzen, die sie erdulden musste?

In der Klasse meiner Tochter wurde ein Musical aufgeführt. Sehr berührend, weil es auch darum ging, dass jeder Tag ein besonderer Tag ist. Jeder ist einzigartig, kommt nicht wieder und beinhaltet sehr viele schöne Momente, wenn man genau hinsieht.

Lena’s Mama wollte zu einem der Auftritte kommen. Sie wollte versuchen, genau an dem Tag dabei zu sein, wenn Lena ihren großen Auftritt hat.

Ich wollte auch gern hin, aber auch wegen ihrer Mama.

Ich wollte sie gern sehen, kennenlernen und schauen, wie sieht diese Frau aus, über die wir seit Wochen reden? Ich höre jetzt so oft, dass es ihr gut geht. Was bedeutet das? Muss sie sich am Ende quälen oder darf sie friedlich einschlafen? Wie lange geht diese gute Phase noch? Oder bedeutet das doch Hoffnung?

Kurz vor Beginn der Vorstellung erschien eine Familie: Mutter, Vater und zwei ältere Mädchen. Lena’s Familie.

Die Mama trug auf dem Kopf ein großes Tuch. Sie war klein, zierlich, sie ging langsam, aber sie hatte ein großes Lächeln auf dem Gesicht.

 

Die ganze Vorstellung über wurde ich diesen Kloß im Hals nicht los, das Gefühl, gleich muss ich weinen. Weinen, warum? Was geht es mich eigentlich an? Bin ich so nah am Wasser gebaut?

Nach der Vorstellung war ich unsicher, ob ich mit ihr sprechen dürfte. Sieht das nach Effekthascherei aus? Wirke ich neugierig? Was sage ich nach dem “Hallo”?

Ich überwand meine Unsicherheit, weil ich wusste, es gibt vermutlich keine weitere Gelegenheit und ich wollte diese Frau kennenlernen, wollte auch, dass sie mich kennenlernt.

Ich ging zu ihr hin und begrüßte sie: ein schmales, sehr blasses Gesicht, in dem es nur noch Augen gab und einen Mund. Einen großen lächelnden Mund. Die ganze Frau war ein einziges Lächeln. Sie hatte eine Aura um sich, dass ich das Gefühl hatte, SIE war die Starke und sie gibt der Familie die Kraft, hier zu sein, zu strahlen und sich zu freuen. Sie hält alles zusammen – wenn sie lächelt, dann dürfen die anderen nicht weinen. Sie hatte eine Kraft, dass ich weinen musste. Ich konnte nicht viel sagen, ich musste schnell gehen, denn weinen wollte ich nicht vor ihr. Ich dachte vorher, ICH würde sie trösten und ICH würde nette Worte sagen. Aber ich konnte nicht. Sie hätte MICH trösten müssen. ich weiss nicht so genau, was ich ihr sagte. Etwa, dass wir zu Hause viel über sie sprechen und dass ich sie so mutig finde und ihr alles Gute wünsche. Und dann ging ich. Ich weiss nicht einmal, ob und was sie geantwortet hat. ich sah nur diesen lächelnden Mund und dieses Gesicht, dass schon so ausgemergelt war. Und doch fühlte ich mich ihr gegenüber viel schwächer und hilfloser.

 

Ich weiss nicht, wie lange die Mama von Lena noch leben wird. Eines Tages werden wir uns kaum noch an sie erinnern können. Das bringt die Zeit so mit sich. Selbst die größten Schmerzen lindert irgendwann die Zeit. Legt eine Kruste drüber, die langsam vernarbt.

Aber diesen Abend mit der Musik und dieses Gesicht von ihr werde ich für immer in meiner Erinnerung bewahren.

http://www.youtube.com/watch?v=e474_kadbGk